Gehört: Neun Leben
Ausstellungsprojekt und Buch auf der Grundlage von neun Interviews
Im Laufe der Ereignisse – Die Welt der Dinge – Der betrachtende Blick zurück
„Aber ich weiß nicht, warum meine Erinnerung es aufgehoben hat. Warum nicht einen anderen Anblick. (…) Die Katze Erinnerung, wie du sagst. – Ja, unabhängig, unbestechlich, ungehorsam.“
Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

IM LAUFE DER EREIGNISSE
Kindheit
Ich habe eine wundervolle Kindheit verbracht. Man konnte toben. Wir hatten die Straße. (…) Also, es war wunderbar, konnte man alles machen, damals auf der Straße. Wer kann das heute noch? Da denke ich, können Kinder auf ihre Jugend gut zurückblicken. (W.B.)
Auf der Straße haben wir Kibbel-Kabbel gespielt. Und Schlagball. Also, wirklich: wir konnten alles spielen, die Straße war ja leer. Ein Auto kam da nicht.
Meine Freundin drüben, die hatten ein Fischgeschäft, und die hatte einen Roller. Oben im Haus wohnte Klein Günther. Und den hab’ ich dann vorneauf genommen, und dann sind wir gerollert! Also, es war herrlich. Ich mochte so gerne rollern. Und er vorneauf. (W.R.)
Wir haben Kreisel gespielt und mit dem Springtau, alleine oder zu zweit. Mit Murmeln in ’ner Sandkuhle oder im Kreis. In der Straße war es ganz still, da haben wir abends immer Schlagball gespielt, da hat uns kein Mensch gestört, da fuhr kein Auto durch. Damals gab es ja auch nicht so viele. Da gab es fast kein Auto. (M.S.)
Räuber- und Gendarm gespielt, immer um den Häuserblock rum. Und wenn ich einmal vorbeikam, hab’ ich Glück gehabt. Denn haben meine Eltern mich gesehen, dann musste ich rauf, ich durfte nicht. (A.R.)

Ich hab’ Klavierunterricht gehabt, fünf Jahre. Meine Mutter hat sich dafür krumm gelegt, genäht, denn Klavierunterricht war ja teuer und musste bezahlt werden. Ich durfte aber nicht das spielen, was ich wollte. Nach den Schularbeiten musste ich eine Stunde Klavier spielen, also üben. Wenn eine Dissonanz war, kam meine Mutter reingefegt: „Das ist falsch!“ „Nee, Mutti, das ist richtig, das gehört so.“ „Das ist falsch! Spiel das noch mal!“, und so ging das dann, bis ich weinte. Und dann musste ich die Zeit nachholen, die ich durch Weinen und sogenanntes Falschspielen versäumt hatte. (A.R.)
Mein Bruder – also, eigentlich war ich eher der Junge, und er war das Mädchen. Wenn mal Klopperei war, dann hab’ ich ihn verteidigt. Er war sehr zurückhaltend. (W.R.)
Mein Bruder war so klug. Ich glaube, er war wirklich ein Genie, nicht nur in meiner Mädchenphantasie. (T.R.)
Mein Bruder war sechs Jahre jünger als ich. Er war der Liebling meiner Mutter. Aber das war eigentlich kein Problem für mich. Wir haben uns sehr gut verstanden. (I.L.)
Das Verhältnis zu meinen Brüdern war nicht so gut. Die waren immer zusammen, und ich als Mädchen war immer außen vor. Aber mich hat das nicht gestört. (M.S.)
Wir waren vier Mädchen, die ersten hatten noch schöne Kleider, und bei mir war denn Aus-zwei-mach-eins. (E.H.)

DIE WELT DER DINGE
Geräusche und Gerüche
Geräusche. Vom Bahnhof Bremen kamen die Lokomotiven, pfiffen denn, wenn die Züge einliefen, das hörte man. Kutschen fuhren durch die Braake, und „4711“ hatte nach dem Ersten Weltkrieg ein Auto, einen kleinen Lieferwagen. Das war die Sensation für uns. Das weiß ich noch genau. Sonst waren nicht viele Autos. (D.G.)
Wir wohnten in der Nähe des Hauptbahnhofs. Wenn ich im Bett lag und schlafen sollte, hörte ich die Geräusche des Bahnhofs, das Rangieren und das Pfeifen der Lokomotiven. Auch das Ankommen der Züge. Ich denke da oft dran. Die Lokomotive, die so Krach machte, Dampf ausstieß. (D.G.)
Die Sägen! Neben uns wohnte ein Schreiner, und da hörte man die Sägen, den ganzen Tag. Morgens um sieben Uhr und dann bis zwölf Uhr, und dann wieder von eins bis nachmittags um vier. Da ging die Säge. (D.G.)
Wenig Autos. Ansonsten waren ja nur Pferdefuhrwerke. Das Klappern der Hufe. Und die Feuerwehr hatte ja vier Pferde vor, wenn Feuer war. Furchtbar aufregend. Das Klappern auf der Straße. Und wir gingen in der Klasse dann sofort ans Fenster und guckten ’runter. Es wurde geläutet mit so ’ner großen Glocke dann, damit alles weggeht, was im Wege war (lacht). (D.G.)

Kuppel auf den Tisch, und da saßen alle rum. Wer noch Schularbeiten machen musste, der machte denn die Schularbeiten, und eines von den Kindern musste was vorlesen. (E.H.)
Na ja. Erst mal die Petroleumlampe. Dann Gas. Und dann, viel später, das elektrische Licht. Man knipste, und es war Licht an. Das war ganz toll (kichert). Zuerst haben wir immer geknipst, wenn wir auch gar kein Licht haben wollten. Aus lauter Vergnügen. Das muss 1919 gewesen sein. (M.S.)
Ich weiß das noch ganz genau. Ich war etwa vier oder fünf Jahre alt, und wenn ich aus dem Fenster guckte, und es war so ein bisschen Dämmerlicht, da kam in der Straße ein Mann mit einer langen Stange – das war so kurz nach dem ersten Weltkrieg – und zündete dann oben hoch an der Wand eine Lampe an. Das war Gas, da war noch Gasbeleuchtung. (D.G.)
Kleidung
Ja, ich entsinne mich noch. Als Kinder trugen wir immer Schürzen. Kleid und dann Schürze, damit das Kleid nicht so schnell schmutzig wird. Eine Sonntagsschürze und eine Alltagsschürze. Da wurden viele Kinderschürzen getragen. (M.S.)
Oh Gott, wie hat man denn dazu gesagt? Das war so ’n ganzes Dings, wurde untergezogen, irgend so ’ne Unterhose, wurde untergezogen, und die hatte hinten ’ne Klappe. Das wurde aufgeknöpft, und wenn man denn aufs Klo musste, musste man diese Klappe runtermachen. Über diese Hosen, also, da hab’ ich so viel schon drüber gelacht. Irgendwer hatte nachher auch noch mal so eine. Wir haben so gelacht. Ich weiß gar nicht, was für einen Namen die hatten. (J.F.)

DER BETRACHTENDE BLICK ZURÜCK
Damals und heute
Damals gab’s ja in dem Sinne noch keine Autos. Auf die Bäume klettern, wo gibt’s denn heute noch Bäume, und wenn, dürfen sie nicht betreten werden. Mir tun die Kinder heute leid. Mir war kein Baum hoch genug, es war eine schöne Zeit. (W.B.)
Die Zeit war besser als heute, viel besser. Was ich erlebt habe in meiner Jugend, die Heutigen haben das nicht. (M.S.)
Klingeln und Hupen. Es wurde ja viel gehupt. Heute wird ja nicht mehr gehupt, früher wurde unentwegt gehupt. Das hab’ ich in Erinnerung. Warum hupt man denn? Um den Weg freizukriegen? Heute ist das völlig out! (D.G.)
Das ist ein ganz anderes St. Pauli gewesen. In jeder Weise. Da bin ich abends um sechs zum Turnen gegangen in die Taubenstraße, das ist ein ganzes Stück weg von uns gewesen. Das ist ’ne ganz dunkle Straße gewesen, da bin ich ohne weiteres, da hat man keine Angst gehabt, dass einem jemand was tun konnte, da würde ich heute nicht am Tag längsgehen.
Damals war’s in St. Pauli – die waren alle stolz, dass sie da gewohnt haben, das waren Kapitäne und alle, die so was mit dem Hafen zu tun hatten. Heute mag man gar nicht mehr erzählen, dass man von da kommt. Aber: Wie haben wir da spielen können, wie war das schön!

Altersweisheit
Ich seh’ das, bei mir. Nicht bei anderen Leuten. Aber ich kann nicht sagen, dann und dann ist es passiert. Es ist eigentlich in den letzten Jahren passiert. Ich wohne hier jetzt viereinhalb Jahre. (Graue Panther Haus HH, Anm. d. Verf.)
Also, ich hab’ das Gefühl, hier ein anderes Leben zu führen, als ich’s vorher geführt habe. (Pause) Also, ich fühle bei mir die Altersweisheit. Ich bin, wie ich schon sagte, ein zufriedener Mensch. Dazu gehört natürlich auch finanzielle Absicherung. (A.R.)
Altersweisheit? Hab’ ich nicht. Was heißt: Altersweisheit? Wenn man Kinder hat, ist es vielleicht was anderes. Ich hab’ ja keine Kinder gehabt, ich hab’ keine Verantwortung für andere Leute gehabt. Ich hab’ keine Altersweisheit. Ich bin im Alter nicht weiser geworden, als wie ich früher war. (Pause) Kann sein, dass ich früher leichtlebiger war, weil ich eben auch behender war. (Pause) Heute würde ich mir keinen Apfel mehr vom Baum klauen! (lacht) (M.S.)
Altersweisheit – ja ja, natürlich. Vernünftiger bin ich geworden (lacht). Ich kann das nicht sagen. Also, vernünftiger bin ich geworden. (D.G.)
Rückschau
Ich habe gelernt, mich im Leben auf neue Situationen einzustellen. (I.L.)
Ich beneide niemanden. Ich bin fröhlich über das, was ich hatte. (Pause) Ich bin wohl ein Mensch, der sich immer der Situation anpassen konnte. Und der aus jedem Tiefpunkt – aber da bin ich nicht …
(…) Aus den Dingen des Alltäglichen, dem Rückblick von acht Frauen und einem Mann, festgehalten auf Kassetten, sortiert, neu gelesen und auch verworfen, lässt Katrin Regelski Erinnerungsarchitektur entstehen. Sie fügt Bruchstücke zu Objekten zusammen und lässt uns so die Vergangenheit betreten. (…)
Die Künstlerin sammelt und erhält die Splitter des Alltäglichen. Sie bettet die Dinge um in Schränke, Türen, Schatullen, Etuis und Walzen. Sie deutet die Fundstücke und hält ein Stück Welt in den Händen, das Stück einer Erzählung. (…)
Geschichten aus den letzten fünfundachtzig Jahren ihrer neuen Interviewpartner möbliert sie mit „Schrott“: alte Zuckertüten, Lampenschirme, Wäscheklammern. Oft lassen sich ihre Objekte geräuschvoll bewegen: Zahnräder und Walzen, von Kurbeln angetrieben. (…) Das Räderwerk der Gedanken auf Relikte vergangener Arbeitsprozesse übertragen, übersetzt die Funktionsweise des Gedächtnisses in die Welt der Dinge. Die von Katrin Regelski befragte Generation, auf gesellschaftlich verlorenem Posten, „zurückgekurbelt“ auf den Platz in der Mitte: Geschichten erzählend und weise. (…) Katrin Regelski hat der Erinnerung beseelte Körper gegeben. Unscheinbares verwoben zu einer Dokumentation der Poesie des Alltags. Miniaturen, die Wehmut und Humor zusammenfügen zu einem Ganzen.
Martina Habermann Hütz
Das Projekt wurde gefördert durch die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg.
Textauswahl, Bearbeitung und Lektorat für das Buch: Ulla M. Becker